Dein Wegführer steckt in dir!
Frage: Offenbar haben die Menschen das Gefühl, dass es nicht reicht, einfach nur sie selbst zu sein.
Warum haben die meisten das zwanghafte Bedürfnis, zu Macht und Ansehen usw. zu kommen, statt sich einfach damit zu begnügen, ein Mensch zu sein?
Osho: Es ist eine komplizierte Frage. Sie hat zwei Seiten und beide wollen verstanden sein. Erstens: Eure Eltern, Lehrer, Nachbarn, kurz alle aus der Gesellschaft haben euch nie so akzeptiert, wie ihr seid. Jeder hat versucht euch zu bessern, zu verbessern. Alle haben euch auf eure Mängel, eure Fehler, eure Irrtümer, eure Schwächen hingewiesen, die jeder Mensch nun mal hat. Niemand hat eure Schönheit hervorgehoben, niemand hat eure Intelligenz hervorgehoben, niemand hat eure Größe hervorgehoben.
Einfach nur lebendig zu sein ist ein solches Geschenk, aber niemand hat euch beigebracht, der Schöpfung dankbar zu sein. Im Gegenteil: Jeder hat nur gemault und sich beschwert. Natürlich werdet ihr so, wie ihr seid, nie gelobt, wenn ihr von Anfang nur umzingelt werdet von Hinweisen, dass ihr nicht so seid, wie ihr sein solltet und man euch nur große Ideale vor Augen hält, die ihr befolgen müsst, um etwas darzustellen. Was gelobt wird, ist eure Zukunft – falls ihr es denn schafft, ein angesehener, mächtiger, reicher, intellektueller, irgendwie berühmter Mensch statt nur ein Niemand zu werden.
Da man immer nur etwas an dir auszusetzen hatte, ist in dir die Überzeugung entstanden: „So wie bin, bin ich nicht gut genug – irgendwas fehlt. Und ich gehöre irgendwo anders hin – nicht hierhin. An diesem Platz habe ich nichts zu suchen, sondern sollte irgendwo anders stehen – dort, wo ich höher, mächtiger, überragender, respektabler, bekannter bin.“
Dies ist die eine Hälfte – die abstoßend ist, die es gar nicht erst hätte geben dürfen. Die kann einfach dadurch beseitigt werden, dass die Leute ihre Aufgabe als Mütter, als Väter, als Lehrer etwas intelligenter erfüllen.
Die besteht ja nicht darin, das Kind zu verderben. Ihr müsst ihm helfen, sich immer mehr selbst zu achten, sich immer mehr selbst zu akzeptieren. Stattdessen aber versperrt ihr seinem Wachstum den Weg. Dies ist der abstoßende Teil, aber zugleich auch der einfache Teil, der sich beseitigen lässt, denn es liegt auf der Hand und ist einfach einleuchtend, dass du dafür, wie du bist, nichts kannst, dass dich die Natur so geschaffen hat. Und jetzt unnötig über die verschüttete Milch zu weinen, ist schiere Dummheit.
Aber der zweite Teil ist äußerst wichtig. Selbst wenn all diese Prägungen beseitigt sind, du deprogrammiert und all diese Vorstellungen los bist – wirst du dennoch das Gefühl haben, nicht zu genügen. Aber jetzt haben wir es mit einer völlig anderen Erfahrung zu tun. Du wirst sie zwar mit denselben Worten beschreiben, aber die Erfahrung ist jetzt anders.
Du genügst nämlich deshalb nicht, weil du mehr sein kannst. Jetzt ist es dir nicht darum zu tun, berühmt, geachtet, mächtig oder reich zu werden. Das alles ist dir egal. Deine Sorge ist die, dass dein Sein noch ein Saatkorn ist. Wenn du geboren wirst, kommst du nicht gleich als Baum zur Welt, sondern nur als ein Saatkorn und du musst solange wachsen, bis du aufblühst, und erst dieses Aufblühen wird dich zufrieden stellen, erfüllen.
Dieses Aufblühen hat nichts mit Macht zu tun, nichts mit Geld zu tun, nichts mit Politik zu tun. Sie hat einzig und allein etwas mit dir zu tun; es ist ein persönlicher Fortschritt. Und dabei versperrt dir die andere Prägung den Weg; sie lenkt dich ab, sie ist ein Missbrauch deiner natürlichen Sehnsucht zu wachsen.
Jedes Kind wird geboren, um zu wachsen und ein voll entfalteter Mensch zu werden – mit Liebe, mit Mitgefühl, mit Stille. Er muss sich selber zu einem Freudenfest werden; dazu braucht er nicht zu konkurrieren, dazu braucht er sich nicht einmal mit anderen zu vergleichen.
Aber die erste, abstoßende Prägung führt dich bereits in die Irre, und zwar weil dein Wachstumsdrang, dein Drang dich zu steigern, dein Drang dich zu entfalten, von der Gesellschaft, von den Machthabern missbraucht wird. Sie lenken ihn um. Sie flüstern dir ein, dieser Drang wolle mehr Geld haben, er sporne dich an, überall der Beste zu sein – egal ob in Bildung oder Politik. Wo immer du bist, musst du ganz oben sein; wenn du darunter bleibst, wirst du meinen, zu nichts zu taugen, wirst du einen tiefen Minderwertigkeitskomplex kriegen.
Diese ganze Konditionierung produziert einen Minderwertigkeitskomplex, weil sie will, dass du überlegen wirst – den anderen überlegen. Sie bringt dir bei, zu konkurrieren, dich zu vergleichen; sie bringt dir Gewaltsamkeit bei, Kämpfergeist. Sie bringt dir bei, dass der Zweck alle Mittel heiligt: Hauptsache du hast Erfolg. Und das fällt ihnen deshalb so leicht, weil du bereits mit einem Drang zu wachsen geboren wirst, mit einem Drang woanders zu sein.
Ein Samenkorn muss weit reisen, um zu Blüten zu werden. Es ist eine Pilgerschaft. Der Drang ist schön; die Natur selbst hat ihn dir mitgegeben. Aber bisher hat es die Gesellschaft sehr listig angestellt: Sie verdreht, umgeht, spannt deine natürlichen Instinkte vor den Karren irgendeines gesellschaftlichen Zwecks.
Von diesen zwei Seiten bekommst du das Gefühl, dass dir etwas fehle, egal wo du bist; dass du etwas verdienen musst, erreichen musst, ein Erfolgsmensch, ein Karrierist werden musst.
Jetzt benötigst du deine Intelligenz, um dir klar zu machen, was dein natürlicher Drang ist und was die Gesellschaft dir eingeimpft hat. Miste letzteres aus – es ist alles Scheiße – so dass deine Natur rein und unverdorben bleibt. Und die Natur ist immer individualistisch.
Du wirst wachsen und du wirst aufblühen und vielleicht hast du ja Rosenblüten. Jemand anders mag wachsen und Ringelblumen haben. Du bist ihm nicht überlegen, weil du Rosen hast; er ist nicht unterlegen, weil er Ringelblumen hat. Ihr seid alle beide aufgeblüht – nur das zählt; und dieses Aufblühen gewährt eine tiefe Genugtuung. Alle Frustration, alle Verspanntheit ist wie weggeblasen und tiefer Friede überkommt dich – „ein Friede, der unergründlich ist“. Aber erst muss aller gesellschaftlicher Scheiß aufhören; andernfalls wird er dich weiterhin ablenken.
Du musst reich, aber nicht wohlhabend sein. Reichtum ist etwas anderes: Ein Bettler kann reich sein und ein Kaiser kann arm sein. Reichtum ist eine Qualität des Seins.
Alexander der Große kam zu Diogenes, der ein nackter Bettler war, mit nur einer Lampe – die war sein ganzer Besitz. Und er ließ seine Lampe sogar tagsüber brennen. Offenbar verhielt er sich etwas seltsam, so dass selbst Alexander ihn fragen musste: „Warum lässt du diese Lampe tagsüber brennen?”
Diogenes hob seine Lampe hoch, leuchtete Alexander damit ins Gesicht und sagte: „Weil ich Tag und Nacht nach dem wirklichen Menschen suche, ihn aber nicht finde.”
Alexander war schockiert, dass ein nackter Bettler es wagte, ihm, dem Eroberer der Welt, so etwas ins Gesicht zu sagen! Aber er konnte erkennen, wie schön Diogenes war in seiner Nacktheit. Seine Augen waren so still, sein Gesicht war so friedlich, seine Worte hatten eine solche Autorität, seine Präsenz war so kühl und ruhig und einnehmend, dass Alexander ihm, obwohl er beleidigt war, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten vermochte. Die Präsenz dieses Mannes war so stark, dass selbst Alexander neben ihm wie ein Bettler aussah. Damals schrieb er in sein Tagebuch: „Zum ersten Mal ging mir auf, dass Reichtum etwas anderes ist, als Geld zu haben. Ich habe einen Reichen gesehen.”
Reichtum ist deine Authentizität, Aufrichtigkeit, deine Wahrhaftigkeit, deine Liebe, deine Kreativität, deine Einfühlungsgabe, dein Meditieren können. Das ist dein wirklicher Reichtum.
Die Gesellschaft hat deinen Kopf den weltlichen Dingen zugedreht und du hast völlig vergessen, dass man dir den Kopf verdreht hat. (…)
Man hat euren Kopf, eure Wahrnehmung in so manche Richtung gedreht … so manche Leute hatten ihre eigene Vorstellung, wie ihr zu sein habt. Sie hatten keine bösen Absichten. Eure Eltern haben euch geliebt, eure Lehrer haben euch geliebt, eure Gesellschaft möchte was aus euch machen! Doch bei den allerbesten Absichten ging ihr Verständnis nicht weit genug. Sie vergaßen, dass man von einer Ringelblume keine Rosen erwarten kann oder umgekehrt.
Alles, was man tun kann, ist, den Rosen zu helfen größer, leuchtender und duftender zu werden. Man kann ihnen alle nötigen Chemikalien geben, um ihre Farbe und ihren Duft zu verändern – den nötigen Dünger, richtigen Boden, richtige Bewässerung zur rechten Zeit – aber man bringt keinen Rosenstrauch dazu, Lotusblüten zu produzieren.
Und wer hergeht und dem Rosenbusch einflößt: „Bring Lotusse hervor!” – und natürlich sind das herrliche und große Blüten – , der programmiert ihn falsch. Und das führt nur dazu, dass nichts dabei herauskommt; und da die ganze Energie des Busches derart in die falsche Richtung gedrängt wurde, wird er nicht einmal mehr Rosen hervorbringen können. Denn wo soll er die Energie hernehmen, Rosen zu produzieren? Und wenn er weder Lotusse noch Rosen bekommt, wird sich der arme Strauch dann natürlich nur ständig leer, frustriert, unfruchtbar und wertlos fühlen.
Und genau das widerfährt den Menschen. Mit den allerbesten Absichten verdrehen euch andere den Kopf. In einer besseren Gesellschaft, deren Menschen verständiger sind, wird euch niemand ummodeln. Jeder wird dir helfen, du selbst zu sein – und man selbst zu sein ist das Reichste, was es auf Erden gibt. Man selbst zu sein gibt dir alles, was du brauchst, um dich erfüllt zu fühlen, alles, was deinem Leben Sinn und Bedeutung zu verleihen vermag. Wenn du einfach nur du selbst bist und dich deiner Natur entsprechend entwickelst, wird sich deine Bestimmung erfüllen.
Der Drang also ist nicht schlecht, nur ist er auf falsche Objekte umgelenkt worden. Und du musst darauf achten, dich von niemandem manipulieren zu lassen, seine Absichten mögen noch so gut sein. Du musst dich in Sicherheit bringen vor all diesen wohlmeinenden Leuten, diesen „Wohltätern”, die dir ständig raten, dieses oder jenes zu sein. Hör ihnen zwar zu und bedanke dich: Es ist ja keineswegs böse gemeint – nur wird es böse enden.
Höre du nur auf dein eigenes Herz – das ist dein einziger Lehrer.
Auf deiner tatsächlichen Lebensreise ist deine eigene Intuition dein einziger Lehrer.
Habt ihr euch das Wort ,Intuition’ einmal angeschaut? Darin steckt das Wort ,Tuition’ – Unterricht. Den bekommt man von Lehrern, von außen; In-Tuition dagegen ist Unterricht seitens deines eigenen Wesens, deines Inneren: Dein Wegführer steckt in dir! Es genügt schon ein wenig Mut und du wirst nie das Gefühl haben, nichts wert zu sein. Du magst es zwar nicht zum Präsidenten eines Landes bringen, du magst nie Bundeskanzler werden, du magst kein Henry Ford werden – aber das ist auch gar nicht nötig. Du magst lernen, schön zu singen, du magst lernen, schön zu malen. Und was du tust, spielt keine Rolle – du magst ein toller Schuster werden!
Als Abraham Lincoln Präsident von Amerika wurde …
Er war der Sohn eines Schusterr und dem versammelten Senat war es peinlich, dass nun ausgerechnet ein Schustersohn den Reichsten, der Oberklasse auf der Nase herumtanzen würde – die sich für überlegen halten, weil sie mehr Geld haben, weil sie aus alteingesessenen, berühmten Familie stammen. Der gesamte Senat war ziemlich verärgert, wütend, gereizt; niemand freute sich, dass Lincoln Präsident geworden war.
Einer von ihnen, ein besonders arroganter Bürger, erhob sich, als Lincoln eben zu seiner ersten Ansprache, seiner Jungfernrede vor dem Senat antrat und er sagte: „Mr. Lincoln, ehe Sie anfangen, möchte ich Sie daran erinnern, dass Sie ein Schustersohn sind.” Und der ganze Senat lachte. Sie wollten Lincoln demütigen; sie hatten zwar nicht die Wahl gewinnen können, aber sie konnten ihn demütigen. Doch damit waren sie bei Lincoln an den Falschen geraten.
Er erwiderte diesem Mann: „Ich bin Ihnen zu tiefem Dank verpflichtet, dass Sie mich an meinen verstorbenen Vater erinnerten. Ich werde Ihren Rat nie vergessen. Ich weiß, dass ich niemals als Präsident so groß werden kann, wie es mein Vater als Schuster war.“ Plötzlich wurde es so still, dass man eine Stecknadel fallen gehört hätte – die Art, wie Lincoln die Sache genommen hatte …!
Und weiter sagte er zu diesem Mann: „Soweit ich weiß, hat mein Vater stets die Schuhe für Ihre Familie gemacht. Sollte Ihnen der Schuh drücken oder es sonst Anlass zu Klagen geben – ich bin zwar kein großer Schuhmacher, aber ich habe die Kunst meines Vaters von Kind auf erlernt: Ich will’s gern richten! Und das sei dem ganzen Senat gesagt: Jedem, dem mein Vater die Schuhe gemacht hat, stehe ich jederzeit zur Verfügung, falls sie ausgebessert werden müssen – obwohl ich es mit Sicherheit nicht so bewundernswert kann wie mein Vater. Er hatte ein goldenes Händchen.“ Und der Gedanke an seinen großen Vater trieb ihm Tränen in die Augen.
Es kommt nicht drauf an. Du magst ein drittrangiger Präsident werden oder magst ein erstklassiger Schuhmacher werden – Hauptsache, dass das, was du du tust, dir so viel Freude macht, dass du all deine Energien reinsteckst und mit niemand anderem tauschen möchtest: Dies und nichts anderes möchtest du sein, denn das entspricht deinem Wesen und ist die Rolle, die dir in diesem großen Theater zugedacht wurde – die richtige Rolle, die du mit niemandem tauschen möchtest, selbst wenn er ein Präsident oder Kaiser ist.
Dies ist wahrer Reichtum. Dies ist wahre Macht.
Wenn jeder dazu heranwächst, er selbst zu sein, wird die ganze Erde von machtvollen Menschen wimmeln, voll von einer unermesslichen Stärke, Intelligenz und Einsicht – und von der Genugtuung, von der Freude, zu Hause angekommen zu sein.
Aus: Transmission of the Lamp # 26